Rumpelstilzchen – Vedana in Grimms Märchen

Śrīḥ
Śrīmathē śatakōpāya namaḥ
Śrīmathē rāmānujāya namaḥ
Śrīmath varavaramunayē namaḥ
Śrī vānāchala mahāmunayē namaḥ

Wie andere Kulturräume hatte auch der unserige Raum eine Tradition mündlicher Erzählungen, die über lange Zeiträume weiter gegeben wurden. Rechtzeitig, bevor diese mündlichen Erzähltraditionen abbrachen, wurden die Erzählungen gesammelt und sind heute als Sagen und Märchen bekannt.

Viele dieser Erzählungen sind für uns heute von geringer Bedeutung. Allzuoft atmen sie vor allem die bittere Armut unserer Vorfahren und den Traum, auf die eine oder andere Art zu Reichtum und Wohlstand oder zumindest zu Vorteilen zu kommen – und den Tücken dabei.

Manch ein Text bleibt aber rätselhaft. Der Inhalt der Erzählung erscheint bei genauer Überlegung absurd und unlogisch, Menschen tun ohne nachvollziehbaren Grund bizarre Dinge oder glauben Seltsames. Warum wurden diese Erzählungen dann müdlich überliefert? Es muss doch auch den Menschen vor 500 Jahren schon aufgefallen sein, wie unlogisch der Inhalt ist?

Psychoanalytiker haben zurecht darauf hingewiesen, dass Märchen mit Symbolen und Bilder arbeiten, der oberflächliche Inhalt der Erzählung ist nicht das, was zählt.

Ein Märchen, das bei oberflächlicher Betrachtung komplett unlogisch, aber bei rechter Betrachtung voll tiefer Weisheit ist, ist das Märchen von Rumpelstilzchen. Hier der Text des Märchens, wie man ihn z.B. auf grimmstories.com/de/grimm_maerchen/rumpelstilzchen finden kann:


Es war einmal ein Müller, der war arm, aber er hatte eine schöne Tochter. Nun traf es sich, daß er mit dem König zu sprechen kam, und um sich ein Ansehen zu geben, sagte er zu ihm: „Ich habe eine Tochter, die kann Stroh zu Gold spinnen.“ Der König sprach zum Müller: „Das ist eine Kunst, die mir wohl gefällt, wenn deine Tochter so geschickt ist, wie du sagst, so bring sie morgen in mein Schloß, da will ich sie auf die Probe stellen.“

Als nun das Mädchen zu ihm gebracht ward, führte er es in eine Kammer, die ganz voll Stroh lag, gab ihr Rad und Haspel und sprach: „Jetzt mache dich an die Arbeit, und wenn du diese Nacht durch bis morgen früh dieses Stroh nicht zu Gold versponnen hast, so mußt du sterben.“ Darauf schloß er die Kammer selbst zu, und sie blieb allein darin. Da saß nun die arme Müllerstochter und wußte um ihr Leben keinen Rat: sie verstand gar nichts davon, wie man Stroh zu Gold spinnen konnte, und ihre Angst ward immer größer, daß sie endlich zu weinen anfing. Da ging auf einmal die Türe auf, und trat ein kleines Männchen herein und sprach: „Guten Abend, Jungfer Müllerin, warum weint Sie so sehr?“

„Ach,“ antwortete das Mädchen, „ich soll Stroh zu Gold spinnen und verstehe das nicht.“ Sprach das Männchen: „Was gibst du mir, wenn ich dirs spinne?“ – „Mein Halsband,“ sagte das Mädchen. Das Männchen nahm das Halsband, setzte sich vor das Rädchen, und schnurr, schnurr, schnurr, dreimal gezogen, war die Spule voll. Dann steckte es eine andere auf, und schnurr, schnurr, schnurr, dreimal gezogen, war auch die zweite voll: und so gings fort bis zum Morgen, da war alles Stroh versponnen, und alle Spulen waren voll Gold.

Bei Sonnenaufgang kam schon der König, und als er das Gold erblickte, erstaunte er und freute sich, aber sein Herz ward nur noch geldgieriger. Er ließ die Müllerstochter in eine andere Kammer voll Stroh bringen, die noch viel größer war, und befahl ihr, das auch in einer Nacht zu spinnen, wenn ihr das Leben lieb wäre. Das Mädchen wußte sich nicht zu helfen und weinte, da ging abermals die Türe auf, und das kleine Männchen erschien und sprach: „Was gibst du mir, wenn ich dir das Stroh zu Gold spinne?“

„Meinen Ring von dem Finger,“ antwortete das Mädchen. Das Männchen nahm den Ring, fing wieder an zu schnurren mit dem Rade und hatte bis zum Morgen alles Stroh zu glänzendem Gold gesponnen. Der König freute sich über die Maßen bei dem Anblick, war aber noch immer nicht Goldes satt, sondern ließ die Müllerstochter in eine noch größere Kammer voll Stroh bringen und sprach: „Die mußt du noch in dieser Nacht verspinnen: gelingt dir’s aber, so sollst du meine Gemahlin werden.“ – „Wenn’s auch eine Müllerstochter ist,“ dachte er, „eine reichere Frau finde ich in der ganzen Welt nicht.“ Als das Mädchen allein war, kam das Männlein zum drittenmal wieder und sprach: „Was gibst du mir, wenn ich dir noch diesmal das Stroh spinne?“ – „Ich habe nichts mehr, das ich geben könnte,“ antwortete das Mädchen. „So versprich mir, wenn du Königin wirst, dein erstes Kind.“ – „Wer weiß, wie das noch geht,“ dachte die Müllerstochter und wußte sich auch in der Not nicht anders zu helfen; sie versprach also dem Männchen, was es verlangte, und das Männchen spann dafür noch einmal das Stroh zu Gold. Und als am Morgen der König kam und alles fand, wie er gewünscht hatte, so hielt er Hochzeit mit ihr, und die schöne Müllerstochter ward eine Königin.

Über ein Jahr brachte sie ein schönes Kind zur Welt und dachte gar nicht mehr an das Männchen: da trat es plötzlich in ihre Kammer und sprach: „Nun gib mir, was du versprochen hast.“ Die Königin erschrak und bot dem Männchen alle Reichtümer des Königreichs an, wenn es ihr das Kind lassen wollte: aber das Männchen sprach: „Nein, etwas Lebendes ist mir lieber als alle Schätze der Welt.“ Da fing die Königin so an zu jammern und zu weinen, daß das Männchen Mitleiden mit ihr hatte: „Drei Tage will ich dir Zeit lassen,“ sprach er, „wenn du bis dahin meinen Namen weißt, so sollst du dein Kind behalten.“

Nun besann sich die Königin die ganze Nacht über auf alle Namen, die sie jemals gehört hatte, und schickte einen Boten über Land, der sollte sich erkundigen weit und breit, was es sonst noch für Namen gäbe. Als am andern Tag das Männchen kam, fing sie an mit Kaspar, Melchior, Balzer, und sagte alle Namen, die sie wußte, nach der Reihe her, aber bei jedem sprach das Männlein: „So heiß ich nicht.“ Den zweiten Tag ließ sie in der Nachbarschaft herumfragen, wie die Leute da genannt würden, und sagte dem Männlein die ungewöhnlichsten und seltsamsten Namen vor „Heißt du vielleicht Rippenbiest oder Hammelswade oder Schnürbein?“ Aber es antwortete immer: „So heiß ich nicht.“

Den dritten Tag kam der Bote wieder zurück und erzählte: „Neue Namen habe ich keinen einzigen finden können, aber wie ich an einen hohen Berg um die Waldecke kam, wo Fuchs und Has sich gute Nacht sagen, so sah ich da ein kleines Haus, und vor dem Haus brannte ein Feuer, und um das Feuer sprang ein gar zu lächerliches Männchen, hüpfte auf einem Bein und schrie:

„Heute back ich,
Morgen brau ich,
Übermorgen hol ich der Königin ihr Kind;
Ach, wie gut ist, daß niemand weiß,
daß ich Rumpelstilzchen heiß!“

Da könnt ihr denken, wie die Königin froh war, als sie den Namen hörte, und als bald hernach das Männlein hereintrat und fragte: „Nun, Frau Königin, wie heiß ich?“ fragte sie erst: „Heißest du Kunz?“ – „Nein.“ – „Heißest du Heinz?“ – „Nein.“ – „Heißt du etwa Rumpelstilzchen?“

„Das hat dir der Teufel gesagt, das hat dir der Teufel gesagt,“ schrie das Männlein und stieß mit dem rechten Fuß vor Zorn so tief in die Erde, daß es bis an den Leib hineinfuhr, dann packte es in seiner Wut den linken Fuß mit beiden Händen und riß sich selbst mitten entzwei.


Das Märchen verstehen – die Oberfläche

Das Märchen lässt ratlos zurück. Das macht doch alles überhaupt keinen Sinn! Warum ist der König so dumm, dass er dem Müller glaubt? Warum droht er der Tochter mit dem Tod, anstatt den Vater zu bestrafen? Warum will Rumpelstilzchen ein Baby?

Das Problem mit vielen Märchen und allgemein alten Erzählungen ist, dass wir sie mit unserem heutigen Blick auf die Welt lesen und die Symbole, die das Märchen benutzt, nicht mehr verstehen. Wenn man die gängigen Interpretationen dieses Märchens liest, fällt schnell auf, dass oft gar nicht der Versuch unternommen wird, das Märchen so zu lesen, wie es ein Mensch in alter Zeit vermutlch verstehen würde – man ist vorschnell mit Interpretationen bei der Hand. Versuchen wir also zunächst, die Grundelemente im historischen Kontext zu verstehen.

Vater und Tochter

Für uns sind Wasser- und Windmühlen heute etwas Schönes und Nostaligisches. Aber in alter Zeit war eine Mühle etwas Unheimliches, nahezu Magisches, denn Mühlen waren praktisch die einzigen großen Maschinen, die es gab. Kraft wurde normalerweise durch Menschen oder Tiere erzeugt – dass so eine große Maschine wie von Geisterhand anfing zu drehen (und, durch die Mechanik aus Holz und durch Festlaufen / Reibungshitze leicht Feuer fangen konnte), das war den Menschen unheimlich. Müller war im Mittelalter folglich kein ehrbarer Beruf und Müller oder Müllersburschen sind in der Sagenwelt zuweilen zauberkundig – als Beispiel sei z.B. auf den zauberkundigen Müllersburschen Pumphut verwiesen.

Stroh zu Gold spinnen
Bis ins späte Mittelalter bestanden Legenden von Gelehrten, Alchemisten, die unedle Materialien zu Gold verwandeln können. Normalerweise wurde versucht, unedle Metalle wie Eisen in Gold zu verwandeln. Wie viel großer wäre der Alchemist, der Materialien, die damals allgegenwärtig waren (Stroh) in Gold verwandeln kann!

Die Tochter eines Müllers, die Stroh zu Gold spinnen kann
Setzen wir nun beide Elemente zusammen. Hier der Müller, Herr über für den normalen Menschen rätselhafte Maschinen, dort seine Tochter, von der dieser behauptet, dass sie die höchste denkbare Kunst beherrschen würde – nämlich ein Material, das in nahezu beliebigen Mengen vorhanden ist, zu Gold zu spinnen.

Deswegen droht der König, die Tochter zu töten, wenn sie die Aufgabe nicht erfüllt: Die Kunst, die die Tochter für diese Aufgabe anwenden muss, ist auf der ganzen Welt äußerst begehrt und er muss sie zwingen, ihm ihr Geheimnis auch wirklich preiszugeben – wenn sie es denn hat. Aus diesem Grund schließt er die Kammer selber zu – damit sie ihm nicht entwischt und jemand anderem das Geheimnis verrät.

Hermes Trismegistos, griechisch / ägyptischer Gott, der den Menschen verschiedene Lehren zu Alchemie und Mystik gab.

Die arme Tochter, die nun vor einer rational gesehen unlösbaren Aufgabe steht, ist zu Recht verzweifelt. Völlig überraschend taucht aber ein kleines Männchen auf, das für eine völlig lächerliche Gegenleistung bereit ist, diese unlösbare Aufgabe für sie zu lösen. Denn was ist ein Halsband als Lohn für jemanden, der Stroh zu Gold spinnen kann, also Gold in quasi beliebigen Mengen erschaffen kann?

Offensichtlich geht es hier nicht um den Wert, sondern um die initime Bindung, die die Tochter an dies Dinge hat. Das Halsband mag eins von mehreren sein, der Ring, das er als Nächstes angeboten bekommt, ist schon sehr viel persönlicher – und was kann persönlicher sein als das eigene Kind?

Rumpelstiltzchen

Warum aber will dieses Männchen etwas Persönliches? Diese Frage wird uns später zum Kern des Märchens führen, im Moment können wir sie noch nicht beantworten. Die zweite Frage zu Rumpelstilzchen ist einfacher. Warum zerstört sich dieses Männchen eigentlich selbst, wenn man seinen Namen kennt?

In der heutigen Zeit, der Postmoderne, in der die Wörter und Dinge zu nahezu beliebig austauschbaren Symbolen degeneriert sind, kann man leicht vergessen, welche Macht Sprache in alter Zeit gehabt hat. Ob man nun an die Veden und ihre exakt vorgeschriebene Rezitation denken will oder die Fragmente, die in unseren Sagen und Märchen über Bann- und Zaubersprüche erhalten sind und die immer wieder über die Gefahren berichten, die entstehen, wenn man sie falsch ausspricht. In alter Zeit war den Menschen klar, dass Sprache, dass Wörter, etwas Machtvolles sind, das man mit entsprechendem Respekt nutzen sollte.

„Etwas beim Namen nennen“, diese Redensart gibt es im Deutschen noch – etwas beim Namen nennen bedeutet immer auch, Macht über diese Sache zu gewinnen, sie ein- und abgrenzen zu können. Nicht umsonst hat Gott in der vedischen Tradition unzählige Namen, die Tausend Namen Viṣṇus sind ja nur die wichtigsten Tausend, es gibt noch viele weitere. Eine Bedeutungsebene dieser vielen Namen ist, dass man niemals alle seine Namen kennen kann und somals niemals auch nur definitorische Macht über ihn gewinnen kann.

Rumpelstilzchen ist nun ein Wesen aus der Anderswelt. Das ist daran zu sehen, dass er geschlossene Türen überwinden kann, zudem fasst er sich am Ende an seinen linken Fuß. Wie Wolf-Dieter Storl in seinen Büchern immer wieder hervorhebt, war die „falsche“ Seite, die Linke, die Richtige, wenn es um die Anderswelt ging. Heil- und Zauberkräuter durften z.B. nur mit der linken Hand geschnitten werden, sonst behielten sie ihre Kraft nicht.

Mit der Kenntnis seines Namens bekam die Tochter Macht über Rumpelstiltzchen. Der rechte Fuß wird in der Erde versenkt, es mag ein Verweis darauf sein, dass er damit die Verbindung zur Tiefe, zur Anderswelt öffnet. Dann greift er an den linken Fuß zerstört seine Existenz hier, vermutlich um in die Anderswelt zurück zu kehren.

Wir haben damit nun – zumindest in groben Zügen – das Verständnis bekommen, das ein Mensch in alter Zeit von diesem Märchen wohl hatte. Wir verstehen nun, warum der König dem Müller glaubt, warum er die Tochter mit dem Tode bedroht und was es mit Rumpelstilzchen und seinem Namen auf sich hat – all das war für einen Menschen in alter Zeit wohl klar und bedurfte keinerlei Erklärung. Aber warum wurde dieses Märchen in oraler Tradion bewahrt? Ist es nicht einfach die wundersame Rettung einer Tochter vor dem Unsinn, den ihr Vater erzählt hat? Warum wurde dies bewahrt?

Der Grund ist, dass das, was wir gerade mühsam entschlüsselt haben, wiederum nur ein Symbol ist.

Das Märchen verstehen – tiefere Symbolik

Beginnen wir mit einer einfachen Frage: hat der Vater in diesem Märchen eigentlich eine positive oder negative Rolle? Man ist geneigt, ihn negativ zu sehen, weil er seine Tochter in eine unmögliche Situation bringt. Aber wäre sie ohne ihn Königin geworden? Niemals! Dem Vater fällt also die Rolle zu, seine Tochter aus ihrer Komfortzone zu bringen, sie in eine Situation zu bringen, die außerhalb des Alltäglichen liegt, aus der sie zu etwas Größerem, als ihre eigene Herkunft eigentlich zulässt, werden kann.

So wie es ein guter Lehrer manchmal tut. Ein spirtueller Lehrer (Guru) gibt seinem Schüler zuweilen seltsame Aufgaben. Die Gurus vor Rāmānuja haben ihre Schüler durch vielerlei Aufgaben geprüft, bevor sie ihnen wertvolle Geheimisse preisgaben. Ramanuja musste z.B. 18 Mal eine Strecke von ca 100km zu einem Guru gehen, bis er die Bedeutung eines bestimmten Mantras erklärt bekam.

Aber auch im weltlichen Kontext gibt es solche Prüfungen. Jeder Mathe-Student kennt sie, die unlösbar scheinenden Aufgaben. Viele Stunden und Tage muss er investieren, um sie zu knacken und es ist gerade dieses Bohren, dieses Verzweifeln und immer wieder neu ansetzen, dass aus dem Studenten einen Mathematiker macht. Auch unter Handwerkern kennt man solche Prüfungen. Der Geselle, der sich auf den Weg zum Meister machen will, oft überlässt sein Meister ihm besonders kniffelige Aufgaben, um ihn auf die Probe zu stellen und sein Ego etwas abzukühlen.

In einem weiteren Kontext lässt sich unser Leben auf analoge Weise lesen. Jeder muss in seinem Leben durch vielerlei große und kleine Schwierigkeiten gehen. Die Überwindung jeder Schwierigkeit lässt uns reifen und wachsen. Und gibt es nicht im Leben von fast jedem nicht diese Momente, in denen man sich fühlt wie die Tochter im Märchen? Man steht vor einer unlösbaren Schwieigkeit und es geht weder vor zu noch zurück?

Die Schwierigkeiten, die wir meistern müssen, sind nach indischer Denktradition bei unserer Geburt bereits zu großen Teilen festgelegt, sie ergeben sich aus den Nachwirkungen unserer Handlungen in vergangenen Leben – unserem Karma. Entgegen dem landläufigen Verständnis ist Karma übrigens kein dezidierter Strafmechanismus, wie wir in diesem Artikel erläutern.

Vater und Tochter lassen sich also wahlweise als Lehrer / Schüler oder als das Leben / wir lesen. Aber wen symbolisiert dann der König? Der König steht für die Gesetzmäßigkeiten dieser Welt, in der indischen Denktradition nennt man sie Dharma. Der König definiert die Regeln, belohnt und straft. Man könnte diese Funktion als Gott personifizieren, aber zumindest in der indischen Denktradition ist diese Funktion zu trocken und gering für die höchste Persönlichkeit Gottes, die man Viṣṇu oder Nārāyana nennt. Mit der Kontrolle und Umsetzung der Gesetzmäßigkeiten der Welt werden geringeren Wesen beauftragt. In der indischen Denktradition ist dies Dharmadeva, was ein Name für Yama, den Totengott ist. Yama trägt die Insignien eines Königs:

Yama, indische Darstellung

Da der König recht drastisch ist und der Tochter mit den Tode droht, wenn sie die Aufgabe nicht erfüllt, sehen wir beiderseitige Referenzen zwischen der Figur des Königs im Märchen und Yama. Wie in diesem Artikel erläutert, finden wir allgemein vielerlei Bezüge zwischen dem Kosmos der indischen Religionen und den noch sichtbaren Fragmenten der alten, vorchristlichen Religion unserer Vorfahren. Es erscheint uns daher nicht abwegig, dass die Figur des Königs im Märchen in der vorchristlichen Zeit vielleicht noch näher an Yama war.

Rumpelstilzchen II

Damit bleibt nur noch die Frage: für wen oder was steht Rumpelstilzchen? Diese Frage führt uns zur Essenz des Märchens. Wer hilft uns hier und heute, nahezu unüberwindliche Schwierigkeiten zu überwinden? Unser Geist. In der indischen Denktradition unterscheidet man zwischen Buddhi, das ist die Denkkapazität, unsere Fähigkeit abstrakt zu denken und zu planen, Ahamkāra, der Ich-Konstruktion sowie Chit, unserem Bewusstsein. Im Gegensatz zur europäischen Denktradtion wird Bewusstsein nämlich als unabhängig von Denken und Ich-Konstruktion gesehen. Jedes Wesen, auch Pflanzen und Tiere, haben Bewusstsein, aber Buddhi und Ahamkāra sind unterschiedlich ausgeprägt.

Chit ist nun ein ganz wesentlicher Ausdruck einer bewussten Einheit, eines Āthmās. Das Āthmā wird in den Veden als jenseits allen Reichtums, allen Verlangens, jenseits all dessen, was wir in unserer Existenz hier erreichen können, beschrieben. In der Katha Upanishade wird die Geschichte eines jungen Mannes namens Nachiketas erzählt, der zum Totengott Yama reist. Er möchte von ihm das Wissen über die letzten Dinge erhalten. Yama prüft seinen Willen durch allerlei Verlockungen, denen Nachiketas widersteht. Im 2. Abschnitt, Vers 11 und 12 spricht Yama:

Du hast das Ziel des Verlangens, die Substanz des Universums, die Unendlichkeit, die Verehrung, das andere Ufer, den weiten Raum, dem Ehre gebührt, und das große Sein gesehen und mit Geduld und Weisheit allem entsagt, was ich Dir anbot.

Durch die Kontemplation über Es, das Uralte, immerwährende Selbst, schwer zu erkennen, tief verborgen im Geist, in der Mitte des Leids, hast Du es realisiert. Den Geist auf das Selbst gerichtet, wird der Weise frei von Glück und Leid.

Die Erkenntnis des Selbst, des Āthmā, ist somit äußerst schwer zu erreichen, sie ist der größe Schatz – wie ein Kind für eine Mutter.

Das, was uns beim Überwinden der Schwierigkeiten hilft, ist aber nicht das Āthmā. Es sind Buddhi und Ahamkāra. Ahamkāra ist die Ich-Konstruktion. Diese ergibt sich quasi von alleine, wenn ein Āthmā in einem handelnden Wesen verkörpert ist. Ohne Buddhi und Ahamkāra könnte wir im physischen Sinn hier nicht existieren – denn ohne Planung und Überlegung können wir Menschen hier in Nordeuropa mit Wintern, wo kaum etwas wächst, das wir essen können, kaum überleben.

Rumpelstilzchen steht also nach unserer Lesart des Märchens für Buddhi und Ahamkāra – also unsere Ich-Konstruktion (ich bin XYZ geboren da und da, mit den Eltern, den Wünschen, Träumen und Bedürfnissen usw) und unser Verstand (wenn ich das tue, kommt das heraus, was mit dabei nützt, das jenes erreicht wird usw).

Rumpelstilzchens Lohn

Beide haben unseren Vorfahren geholfen, vielerorts zurecht zu kommen, Land zu kultivieren, genug zu Essen an ehemals unwirtlichen Teilen der Welt zu haben – kurz, das Unmögliche zu schaffen. Aber was hat es dann mit den Gegenleistungen, die die Tochter anbietet, auf sich? Sie stehen für den Preis des bewussten Denkens. Viele Menschen fühlen sich zu Tieren hingezogen, weil Tiere viel mehr im Moment sind, ihre Äußerungen sind unverstellt, sie verfolgen keine Agenda. Diese Leichtigkeit, sie ist der Preis, den wir dafür zahlen mussten, das Unmögliche zu tun. Wer gewohnt ist zu denken, zu planen, der kann damit meist nicht mehr damit aufhören. Immer arbeitet der Kopf, sorgt sich, überlegt, ob nicht der Nachbar eigentlich das gemeint hat bei dem, was er neulich sagte. Dies sind Kette und Ring der Tochter.

Unser Leben hier setzt vielerlei Überlegungen und technische Vorkehrungen voraus

Die Tochter gibt beides gern, denn der Wohlstand als Königin lässt es unwichtig erscheinen. Unsere Vorfahren haben das Grübeln sicher gerne in Kauf genommen, wenn sie dafür Essen auf dem Tisch und ein warmes Haus hatten. Und kann man nicht, wenn die aktuen Bedürfnisse gestillt sind, durch Kontemplation das Grübeln in den Griff bekommen?

Kann man. Aber es besteht Gefahr. Die letzte Gabe, für das letze Zimmer voll Stroh, dass die Tochter zu Gold verspinnt, ist ihr zukünftiges Kind. Die ersten beiden Nächte, hätte der König nach ihnen die Tochter gehen lassen, es wäre nichts weiter passiert. Aber die dritte Aufgabe, groß genug, um aus der Tochter des Müllers die neue Königin zu machen, für ihre Lösung gibt es keine einfache Gegenleistung mehr.

Die Tochter gewinnt durch das Bestehen der letzten Prüfung Herrschaft. Nachdem unsere Vorfahren es geschafft hatten, zu überleben, musste das Erreichte gegen andere Stämme und Gruppen gesichtert werden. Dies erfordert ein höheres Niveau von Denken und Planung. Der Jäger und Sammler, der Selbstversorger, der eine Waldlichtung urbar machte, sie können die Erfahrung langer Zeit nutzen und in dem Takt der Planzen und Tiere leben. Damit sind sie in einen gewissen Sinne noch „ganz“. Doch die Verteidigung gegen fremde Stämme und umherziehende Gauner, sie erfordert Wir/Sie Denken, Strategie, Durchspielen verschiedener Handlungsalternativen – kurzum unser modernes Denken.

Die Herrschaft, sie kostete also einen größeren Preis, den größten Schatz, jenseits aller Reichtümer – das Kind, das Āthmā. Wir haben die Bemerkungen von Yama zu Āthmā oben gelesen. Warum ist es versteckt, äußerst schwierig zu erkennen? Weil Bewusstsein, eigentlich ungetrübt und strahlend, überdeckt wird von unermesslichen Lagen an Idee, Konzepten, Sehnsüchten und eingefahrenen Denkfiguren. Diese sind das Ergebnise des Denkens von uns als entwickelten Menschen – es lässt sich nicht vermeiden, dass das Āthmā für uns schwer zu finden ist.

Eine erfolgreiche materiellen Existenz impliziert also, dass Buddhi und Ahamkāra, personifiziert als Rumpelstilzchen, so viel Eigenleben entwickeln, dass sie das Āthmā völlig überdecken – also, dass Rumpelstilzchen das Kind der Königin nimmt.

Und warum kann die Königin diesem Schicksal dann durch die Kenntnis des Namens von Rumpelstilzchen entgehen? Buddhi und Ahamkāra können nur dann so viel Eigenleben entwickeln, wenn man sie nicht als solche erkennt. Wenn wir denken „Dass ich den ganzen Tag darüber nachgrübele, wer mich wie findet, das ist doch ein Teil von mir!“ – dann hat Rumpelstilzchen das Kind. Wenn wir erkennen, dass Denken erst einmal nur Sprechen im Kopf ist und man durchaus auch mal im Kopf „die Klappe halten“ kann, weil es nicht immer etwas zu sagen gibt, dann hat man Buddhi in die Schranken gewiesen. Wenn man erkennt, dass das Ich im alltäglichen Sinne eine Konstruktion ist, die i.W. an diesen Körper gebunden ist und dass es ohne den Beobachter, der alle Gedanken, Gefühle usw wahrnimmt, nicht existieren kann, dann hat Ahamkāra keine unbeschränkte Macht mehr. Denn dann weiß man, dass „Ich“ temporär bin, „Ich“ werde verschwinden – nur der Beobachter in mir, der das „Ich“ mit Leben füllt, der ist unsterblich.

Man muss diese Dinge erkennen, beim Namen nennen, um seine eigene Konstitution zu erkennen. Kṛṣṇa spricht in Bhagavad Gītā, Kapitel 4, Vers 36-38 zu seinem Freund Arjuna:

Selbst wenn du von allen Schuften der größte Übeltäter bist, wirst du alle Schlechtigkeit mit dem Boot der Erkenntnis überwinden.

Wie entflammtes Feuer Brennholz zu Asche macht, Arjuna, so verzehrt das Feuer der Erkenntnis alle Taten.

In dieser Welt findet sich nämlich kein Läuterungsmittel, das der Erkenntnis vergleichbar wäre. Diese findet der im Yoga Vollendete mit der Zeit spontan in sich selbst.

Der letzte Vers verweist uns darauf, dass die Erkenntnis nicht aus intellektueller Überlegung stammt, sondern spontan kommt. Das „Ich“, das Ahamkāra, ist das Zentrum von Buddhi, der Denkarbeit – es kann sich nicht durch Denkarbeit selbst erkennen. Wir können über die Struktur unseres Geistes lesen und lernen, aber nur die ruhige Betrachtung dessen, was sich in uns abspielt, führt uns zu einer echten Erkenntnis der Lehre. Das Märchen scheint diesen Umstand dadurch anzudeuten, dass der Name von Rumpelstilzchen nicht durch das systematische Suche, sondern durch Zufall in einer äußerst abgelegenen Ecke des Königreiches gefunden wird.

Schlussfolgerung

Egal wie lange wir über ein Märchen grübeln, es wird seine Botschaften niemals ganz preis geben. Aber uns scheint, dass die gerade dargelegte Interpretation des Märchens als eine Botschaft über unsere eigene Konstitution recht schlüssig ist und in der Lage ist, Dinge die im Märchen seltsam erscheinen (v.a. die Selbstzerstörung von Rumpelstilzchen) mit Sinn zu erfüllen.

Im Laufe der nächsten Jahre werden wir sicher noch das eine oder andere Märchen „unter die Vedanta-Lupe“ nehmen und hoffen, dass noch die eine oder andere Überraschung auf uns wartet.

Jai Srimannarayana!

Erste Ausgabe von Grimms Märchen

Adiyen Mādhava Rāmānuja Dāsan

Verbindungen durch Raum und Zeit

Überarbeite Version, Stand November 2019

Śrīḥ
Śrīmathē śatakōpāya namaḥ
Śrīmathē rāmānujāya namaḥ
Śrīmath varavaramunayē namaḥ
Śrī vānāchala mahāmunayē namaḥ

Wenn jemand aus der westlichen Kultur sich dem Hinduismus zuwendet, ist eine häufige Reaktion von Freunden und Verwandten: „Oh, das ist aber exotisch“! Und in der Tat, die vielen bunten „Götter“ (eigentlich sind die meisten Devas, grob vergleichbar mit Engeln in der christlichen Mythologie), die vielfältigen Texte in für Außenstehende kryptisch wirkenden Sprachen – diese Reaktion ist gut zu verstehen. Dieses Gefühl der Fremdheit führt auch regelmäßig dazu, dass sich die Menschen nach etwas vorsichtiger Hindu-Praxis wieder esoterischen Formen des Christentums oder anderen, im Westen üblicheren Wegen zuwenden.

Diese Fremdheit ist jedoch nur an der Oberfläche. Schaut man tiefer, findet man erstaunliche Parallelen in alten katholischen Praktiken und Praktiken im Hinduismus.

In diesem Artikel möchte ich viele solcher Parallelen aufzeigen. Diese Parallelen sind, und dazu gleich mehr, für mich ein indirekter Hinweis darauf, dass die alten Religionen Mitteleuropas, aus denen die katholischen Praktiken höchstwahrscheinlich stammen, und die vedische Religion Indiens, deren moderne Form der Hinduisumus ist, eng verwandt waren.

Hier ist zunächst ein kurzer historischer Exkurs nötig.

Christianisierung

Es mag so manchen überraschen, aber zumindest Nord- und Mitteleuropa sind – gemessen an den Zeitskalen indischer Geschichte – noch nicht besonders lange christlich, und freiwillig sind die Menschen hier auch nicht Christen geworden. Die Christianisierung Deutschlands wurde maßgeblich z.B. von Karl dem Großen voran getrieben und ihm war Gewalt als Mittel dazu recht und billig. 

Es ist unter Historikern und Menschen wie z.B. Wolf Dieter Storl, die sich mit der vorchristlichen Glaubenswelt Europas befassen, generell umstritten, wie gewalttätig die Christianisierung insgesamt war und in wie weit sich die Menschen dieser neuen Religion freiwillig angeschlossen haben. Ein gewisses Element der Gewalt kann man, so scheint mir (und vielen anderen) aber kaum von der Hand zu weisen. Die ältesten Kirchen (in meiner Gegend z.B. Hamburg-Sinstorf) stehen systematisch auf besonderen Geländepunkten und sind i.d.R. nicht genau nach Osten ausgerichtet. Beides spricht dafür, dass sie an der Stelle alter Heiligtümer, die i.d.R. eine Ausrichtung nach astronomischen Kriterien hatten, errichtet worden sind. Die Sinstorfer Kirche ist z.B. auf die Sonnenaufgangsposition Anfang / Mitte Feburar ausgerichtet, das vermuten lässt, dass hier vorher ein Heiligtum der Göttin des Frühlings und des Wachstums (analog zur keltischen Brigid)- diese kommt um diese Zeit aus den Tiefen und lässt das Pflanzenwachstum wieder beginnen – befand.

Gewalt und Zwang zum Christsein führten nun sicherlich nicht dazu, dass die Menschen besonders fromm wurden, sondern dazu, dass sie ihren alten Glauben heimlich lebten. Dazu gibt es verschiedene Bemerkungen in alten kirchlichen Texten. Aus diesem Grund, so scheint es, wurden schnell viele Elemente aus der alten, heidischen Religion in das christliche Brauchtum übernommen. Denselben Ansatz finden wir aktuell in Indien. Dort wird Jesus dargstellet wie eine Hindu-Gottheit und Figuren von Jesus werden nach hinduistischem Brauch verehrt. Hier z.B. eine zeitgenössische Darstellung von Jesus aus Indien:

Jesusdarstellung, angepasst für die Bekehrung von Hindus

Die Lutheraner haben diese „heidnischen“ Elemente später als solche identifiziert und entfernt. Im Katholizismus, so wurde die alte Variante des Christentums später genannt, wurden diese Elemente aber bis heute überliefert und sind mir in meiner katholischen Jugend in großer Zahl begegnet. Die Gleichung lautet also

Katholizismus – lutheranisches Christentum = heidnische Elemente, die wir oft auch im Hinduismus finden.

Im Folgenden mag der Leser Buddhismus immer mit dazu denken. Überraschenderweise ist es nicht allgemein bekannt, dass der Buddhismus eine Abspaltung aus dem Hinduismus ist. Beide waren viele Jahrhunderte nicht einmal streng getrennt – viele Hindus verehrten Buddha als Avatar von Viṣṇu, religiöse Praxis und Symbolik im Buddhismus sind (in einigen Zweigen) kaum von der im Hinduismus zu unterscheiden.

Einstimmung: Echos aus alter Zeit

Vor einigen Monaten bin ich in einem alten katholischen Dorf in Mitteldeutschland spazieren gegangen. Unten sind einige Eindrücke vom Wegesrand, die an das alte Erbe, das in der katholischen Tradition verborgen liegt, erinnern.

Bildstock des heiligen Antonius – Schutzpatron der Reisenden
Bildstock mit dem Erzengel Michael
Alle Kreuze und Bildstöcke stehen unter Bäumen, meist sind es Eichen.
Römische Historiker berichten, dass die Germanen meist unter heiligen Bäumen beteten

Detailliertere Vergleiche

Prozessionen

In katholischen Gegenden gibt es das (heute oft sterbende) Brauchtum von Prozessionen. Hierbei wird eine geweihte Hostie in eine sogenannte Monstranz gesetzt und vom Priester unter einem Baldachin den Prozessionsweg entlang getragen. Normalerweise wird übers Jahr in jede der vier Himmelsrichtungen eine Prozession abgehalten.

Fronleichnahmsprozession, Quelle: Wikipedia

Für Katholiken ist eine geweihte Hostie nicht einfach nur ein Symbol, wie sie es für Lutheraner ist. Nein, sie ist der Leib Christi (theologischer Fachbegriff: Transsubstantiantion). Somit kann man sagen, dass nach katholischer Lehre der Leib Christi den Prozessionsweg entlang getragen wird.

In indischen Tempeln gibt es normalerweise eine bewegliche und eine fest installierte Version der Bildgestalt der jeweiligen Gottheit. Für uns Hindus ist eine solche Bildgestalt eine vollumfängliche Form Gottes (vgl dazu: unsere Praxis). Bei Tempelfesten, sogeannten Utsavams, wird die bewegliche Bildgestalt unter einem großen Schirm um den Tempel getragen.

Prozession um einen südindischen Tempel

Ein Europa begleiten Blaskapellen eine Prozession, in Indien zumeist Trompeten und Trommeln (hier ein Video einer wichtigen Prozession eines großen Tempels).

Sowohl in Indien wie auch in Europa gibt es die Tradition, den Prozessionsweg mit Flaggen, Blumen und anderem zu schmücken.

Heiligendes Wasser

Neben dem Eingang jeder katholischen Kirche gibt es ein Töpfchen mit Weihwasser. Der Gläubige ist aufgefordert, sich beim Betreten der Kirche zur Reinigung damit zu bekreuzigen. In bestimmten Messen sprenkelt der Priester zusätzlich noch Weihwasser über die versammelten Gläubigen.

In der Vorbereitung der Bildgestalten-Vereherung in Hinduismus (Puja) werden alle Gegenstände zur Reinigung mit Wasser besprenkelt. Teil der Verehrung ist i.d.R. ein Bad der Bildgestalten mit Wasser (manchmal auch Milch), was gesammelt und zur inneren Reinigung getrunken wird.

Räucherwerk

Weihrauch bei einer katholischen Messe, Quelle: Wikipedia
Verbrennen von Rächerwerk am Ganges, Quelle: Wikipedia

An wichtigen Feiertagen wird während einer katholischen Messe Weihrauch verbrannt.

Das Abbrennen von Räucherstäbchen oder Weihrauch ist fester Teil einer Puja.

Glocken

Katholische Kirchen haben stets Glocken, die vor und nach der Messe geläutet werden. Zusätzlich gibt es kleinere Glocken, die zusamen mit den Turmglocken bei der Wandlung, in der die Hostie zum Leib Christi wird, geläutet werden.

Bei Verehrungs-Ritualen im Hinduismus werden ebenfalls an wichtigen Stellen Glocken geläutet, des weiteren haben viele Tempel Glocken, die man beim Betreten läutet und große fest installierte Glocken, die geläutet werden, wenn den Bildgestalten im Tempel Essen geopfert wird.

Türme

Nordeuropäischen Kirchen haben für gewöhnlich alle die selbe grundlegende Strukur: im Westen ist der Eingang, im Osten ist der Altarraum. Hinduistische Tempel haben keine so festgefügte Struktur, es gibt aber eine andere bedeutsame Gemeinsamkeit: Neben dem Eingang ist zumeist auch der Turm einer Kirche im Westen. Hindu-Tempel haben ein sogenanntes Gopuram (Go = glückbringend, Puram = Stadt), ein großes Bauwerk auf dem viele glückbringende Götter (Devas) und Symbole zu sehen sind. Dieses Gopuram ist der höchste Turm eines Tempel und gleichzeitig meistens der Haupteingang (sehr große Tempel können aber mehrere Gopurams haben).

Gopuram von Śrīraṅgam, Haupttempel unserer Tradition. Quelle: Wikipedia

Himmlische Spezialisten

Meine Großmutter war eine strenggläubige Katholikin. Wenn sie etwas verloren hat, betete sie immer zum Heiligen Antonius (von Padua). Wenn alte Bauern gutes Wetter für die Ernte benötigten, beteten sie zu Johannes und Paulus („Wetterherren“). An alten Brücken in katholischen Gegenden steht zumeist eine Statue des Heiligen Nepumuk, der für Brücken und Fließgewässer zuständig ist. Und das sind nur einige der vielen „himmlischen Spezialisten“, zu denen Katholiken früher gebetet haben.

Nepumuk Statue an einer Brücke. Quelle: Wikipedia

Wenn ich das Hindus aus Indien erzähle, führt das i.d.R. zu ungläubigem Staunen. Sind die Christen nicht Monotheisten? Vielfach wird behauptet, dass Hindus Polytheisten sind, weil sie zu vielen „Göttern“ beten. Es gibt aber eine Art himmlicher Hierarchie, denn diese Götter sind wie bereits erwähnt Devas, also metaphyische Wesen, die für bestimmte Bereiche der Realität (wie z.B. Fließgewässer) zuständig sind, aber – je nach Unterströmung – Attribute / Aspekte / Modifikationen / Untergebene der höchsten Gottheit (Śrīman Nārāyaṇa) sind. Es gibt ein Deva für den Wind, ein Deva für das Feuer usw. Ganz so, wie die katholischen Heiligen für bestimmte Dinge zuständig sind!

Es mag Zufall sein, aber bei Nepumuk gibt es sogar eine Namensähnlichkeit zur Göttin der Flüsse und der Fruchtbarkeit, die er ersetzt hat: diese hieß Nerpus.

Die Muttergöttin

Wir Śrī Vaiṣṇavas verehren die göttliche Mutter Mahalakṣmī, die untrennbar mit dem Höchsten, Nārāyaṇa verbunden ist. Aus diesem Grund nennen wir ihn stets Śrīman Nārāyaṇa. Śrīman steht dabei für Mahalakṣmī. Sie ist die liebevolle Mittlerin (Mediatrix) zwischen ihm und den unzähligen bewussten Einheiten (Jīvāthmās, grob: Seelen).

Katholische Christen haben, wie bereits erwähnt, eine besondere Beziehung zu Heiligen. Unter ihnen wird die Gottesmutter Maria besonders geehrt, alleine in Deutschland gibt es 11 Wallfahrtsorte, an denen besondere Marienwunder geschehen sein sollen. In großen Kirchen gibt es oft besondere Marienaltäre, es gibt auch spezielle Marienkirchen, in denen der Fokus nahezu ausschließlich auf Maria gerichtet ist.

Marienaltar im Augsburger Dom

Nicht nur wir Hindus, auch die Lutheraner empfinden die Marienverehrung als kaschierte Verehrung der Muttergöttin. Weitere Evidenz, dass die Marienverehrung in der Tat die Verehrung der Muttergöttin ersetzt hat, lässt sich an der Rolle von Maria im Katholizismus finden. Hier die zweite Strophe des Ave Maria, dem wichtigsten Mariengebet, auf Latein – der Sprache, in der die alten Gebete ursprünglich verfasst wurden:

Sancta Maria, Mater Dei,
ora pro nobis peccatoribus
nunc et in hora mortis nostrae.

Interessant ist hierbei die zweite Zeile: ora pro nobis peccatoribus. „Ora“ (das Verb ist orare) heißt sprechen oder beten. „pro“ bedeutet für und „nobis peccatoribus“ bedeutet „uns Sünder“

Die Katholiken bitte also Maria, für sie zu sprechen / zu beten. Auch wenn Maria als Mediatrix natürlich in den theologischen Lehrbüchern nicht zu finden sein wird, legt „ora“ dem Gläubigen doch nahe, seinen Glauben in die göttliche Mutter als Mediatrix in Maria hinein zu projezieren.

Fazit

Wir haben somit vielen Parallenen zwischen „typisch katholischen“ Praktiken und Praktiken aus dem Hinduismus gesehen. Nimmt man lokale Traditionen und Gebräuche mit ins Bild, ließen sich wahrscheinlich noch Dutzende weitere finden. Die Anzahl der Gemeinsamkeiten und die versteckte Gegenwart zweier sehr bedeutender Elemente des Hinduismus (Anrufung von Devas für bestimmte Aufgaben und Verehrung der göttlichen Mutter bzw Muttergöttin) im Katholizismus schließen aus meiner Sicht den Zufall als Grund für die Ähnlichkeiten aus.

Wenn wir aus dem Westen uns also dem Hinduismus, den wir Hindus Sanātana Dharma, die ewigen natürliche Ordnung nennen, zuwenden, so ist dies auch eine Zuwendung zu unseren eigenen Wurzeln. Die spirituelle Kultur Indiens ist, trotz diverser Veränderungen und Verwerfungen, Teil eine Kontinuums, das mindestens bis in die Bronzezeit zurück geht. Unsere Wurzeln in den Tiefen der Zeit sind vor 1100-1200 Jahren durchtrennt worden.

Seit dieser Zeit gab es Erbestattungen (vorher wurden die Toten wie in Indien verbrannt, der Beginn von Erdbestattungen ist für Archäologen ein wichtiger Marker für die Christianisierung) und Menschen mit übernatürlichen Fähigkeiten wie auch Erscheinungen von Wesenheiten in der Natur wurden nun den Kräften des Teufels zugeschrieben. Die alten Heiligtümer wurden überbaut oder ignoriert und – wie bei den meisten Hünengräbern – zum Beginn der Neuzeit als Quelle für Baumaterial verwendet. Diese Abspaltung unserer Vergangenheit wirkt bis heute auf subtile Weise nach.

Die Enge des mittelalterlichen Christentums und dessen Antithese, die Neuzeit mit all ihren Segungen und Irrungen, haben uns zusammen denkbar weit von der Welt unserer Vorfahren entfernt. Auch wenn die Weisheit der alten Schamanen, Druiden und Seher für immer verloren ist, hat doch die unendliche Güte des universalen Bewusstseins, das die Wurzel aller Realität ist (Śrīman Nārāyaṇas) eine weiterentwickelte und verfeinerte Form ihrer Weiheit auf dem indischen Subkontinent bewahrt.

Jeder muss natürlich für sich selbst entscheiden, ob er auf seiner Reise zu den eigenen Wurzeln Philosophie und Praktiken aus dem Hinduismus nur als Inspirationsquelle nutzen will oder – wie ich – durch Einweihung in ein bestimmte Lehrer-Schüler Tradition ein „richtiger“ Hindu wird. Auf jeden Fall sollte aber jeder, der hier lebt und nach Wurzeln und tiefer Weisheit sucht, beides, die Spuren der alten Religion unserer Vorfahren und ihrer lebenden Verwandten aus Indien, genau studieren – nur dann haben wir eine realistische Chance, auf dieser Suche erfolgreich sein.

Adiyēn Mādhava Rāmānuja Dāsan
Geschrieben von Mādhava, Diener Rāmānujas