Unsere Tradition

Śrīḥ
Śrīmathē śatakōpāya namaḥ
Śrīmathē rāmānujāya namaḥ
Śrīmath varavaramunayē namaḥ
Śrī vānāchala mahāmunayē namaḥ

Unsere spirituelle Tradition existiert seit grauer Vorzeit. Die „aktuelle“ Geschichte beginnt mit den Āḻvārs. Āḻvār ist ein Begriff aus der tamilischen Sprache, den man in etwa mit „jemand der zutiefst in Gottesliebe versunken ist“ übersetzen kann. Die Āḻvārs erschienen der Tradition zufolge vor etwa 5000 Jahren. Indologen vermuten, dass sie in die Zeit zwischen 700 – 900 unserer Zeitrechnung gelebt haben. Die Argumente hierfür sind aus unserer Sicht relativ dünn [1] – letztendlich ist die zeitliche Einordnung aber nicht entscheidend.

Die Āḻvārs komponierten transzendentale Verse, die vor lebendiger Erfahrung Gottes überquellen. Sie enthalten dasselbe Wissen wie die indischen Weisheitstexte der Veden, aber in einer kompakteren und zugänglicheren Form. Leider ging diese wertvolle Literatur im Laufe der Zeit verloren, in den ersten Jahrhunderten unserer Zeitrechnung war kaum noch etwas übrig. Nāthamuni, der erste unserer frühen Āchāryas (Lehrer), hörte ein Fragment der Verse der Āḻvārs – so ziemlich alles, was zu seiner Zeit übrig war – und war sofort verzaubert. Im Folgenden nahm er unendliche Mühen auf sich, den Rest dieser Verse wiederzugewinnen und war letzlich auch erfolgreich.

Nāthamuni und die Āchāryas, die nach ihm kamen, lehrten sowohl die Literatur der Āḻvārs als auch Auszüge aus dem riesigen Kanon vedischer Literatur. Die Folge unserer frühen Āchāryas wird durch das Erscheinen von Rāmānuja im 11. Jahrhundert unserer Zeit gekrönt. Rāmānuja ist eine zentrale Person in unserer Tradition, in diesem Artikel gibt es weitere Information zu ihm.

Rāmānuja und seine Nachfolger verbreiteten unsere Tradition über den gesamten indischen Subkontinent. Leider erreichten einige Jahrhunderte nach Rāmānuja, im frühen 14. Jahrhundert, muslimische Eroberer selbst die Hochburgen unserer Tradition in Südindien. Sie besetzten und plünderten Śrīraṅgam, den Haupttempel unserer Tradition. Viele Śrī Vaiṣṇavas verloren ihr Leben und ein riesiger Schatz an Schriften und Kommentaren wurde teilweise zerstört und teilweise, im Versuch diese Schätze zu retten, in alle Winde verstreut.

Im 15. Jahrhundert wurden die muslimischen Eroberer aus Śrīraṅgam vertrieben und unsere Tradition konnte sich von den Zerstörungen erholen. Dem Āchārya Manavāḷa Māmunigaḷ kam dabei eine zentrale Rolle zu. Er suchte und kopierte persönlich Texte unserer Tradition, wo auch immer er sie fand. Das Verhalten und die Praktiken Manavāḷa Māmunigaḷ sind sehr gut dokumentiert und dienen bis heute als Muster für das Verhalten eines idealen Śrī Vaiṣṇavas. Manavāḷa Māmunigaḷ hatte acht Schüler, die die Rückkehr unserer Tradition zu altem Ruhm vollendeten.

Struktur des Śrīraṅgam Tempels nach dem Wiederaufbau

Somit ist unsere Tradition vor allem den Āḻvārs, Rāmānuja und Manavāḷa Māmunigaḷ verpflichtet. Unser Website-Banner zeigt daher ganz rechts Manavāḷa Māmunigaḷ, links davon Rāmānuja und links davon Nammāḻvār, den wichtigsten der Āḻvārs

Heute gibt es in jeder größeren Stadt in Indien mindestens einen Śrī Vaiṣṇava Tempel, insgesamt gibt es weit mehr als hundert Tempel. Es gibt überall in Indien Āchāryas, die in die Tradition einweihen. Zwei Tempel, der Śrīraṅgam Tempel und der Thirumala Veṅkaṭēśvara Tempel, sind wichtige Pilgerorte, die in manchen Monaten mehr als eine Million Besucher haben.

Es gibt auch Śrī Vaiṣṇava Tempel und religiöse Aktivitäten in den USA und Australien. Schauen wir nach Europa, finden wir in England einige sehr aktive Śrī Vaiṣṇavas. Dort wurde im Sommer 2017 das erste Śrī Yāgam Europas durchgeführt. Ein Śrī Yāgam ist ein sehr aufwendiges vedisches Ritual, das der göttlichen Mutter Mahalakṣmī gewidmet ist. Sie ist die Namensgeberin unserer Tradition, denn Śrī ist ein Kurzname von Mahalakṣmī. Die Aktivitäten in Deutschland befinden sich noch in den Anfängen. Eine Gruppe von Śrī Vaiṣṇavas besteht im Raum München und richtet dort seit einigen Jahren Feste zu besonderen Tagen im Śrī Vaiṣṇava Kalender aus. Einige weitere Śrī Vaiṣṇavas leben über ganz Deutschland verstreut. Bislang stammen fast alle Śrī Vaiṣṇavas in Europa, den USA und Australien aus der indischen Diaspora. Wir hoffen, dass sich das eines Tages ändern wird.

Fußnoten

[1] In frühen akademischen Analysen der Werke der Āḻvārs wurde z.B. argumentiert, dass einer der ersten Āḻvārs irgendwann im Zeitraum 700-900 gelebt haben muss, da die Stadt, aus der er nach eigenen Angaben stammt, (Mahabalipuram) in dieser Zeit gegründet worden sein soll. Nach dem Tsunami im Jahr 2004 wurden am Strand von Mahabalipuram aber Tempelruinen unter dem Meeresspiegel sichtbar, die darauf hinweisen, dass Mahabalipuram schon deutlich länger existiert. Wenn wir postulieren, dass Mahabalipuram schon existiert haben muss, als der Meeresspiegel ca 5m tiefer war, deuten Rekonstruktionen der Meeresspieglhöhe darauf hin, dass Mahabalipuram dann in der Tat schon vor ca 5000 Jahren existiert haben muss:

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Unsere Philosophie

Śrīḥ
Śrīmathē śatakōpāya namaḥ
Śrīmathē rāmānujāya namaḥ
Śrīmath varavaramunayē namaḥ
Śrī vānāchala mahāmunayē namaḥ

Vishishtadvaita – Abgrenzung zu anderen vedischen Philosophien

Unsere Philosophie wird Vishishtadvaita genannt, was gemeinhin mit „qualifizierter Monismus“ übersetzt wird. Im Zeugnis der Veden, aber auch allgemein im Zeugnis der Mystiker und Seher anderer Religionen finden wird Berichte von Erfahrungen einer Einheit mit Gott, aber auch Zeugnisse der Erfahrung von Unterschied und Geringheit im Verhältnis zu Gott.

Diese scheinbar widersprüchlichen Zeugnisse führten zu langen Debatten in der vedischen Tradition. Über die Jahrtausende wurden zahlreiche Ansätze vorgeschlagen, wie eine Synthese dieser Zeugnisse zu bilden sei. Leider sind im Rahmen der islamischen Invasion Indiens, bei der Universitäten und Bibliotheken zerstört worden sind, viele Texte verloren gegangen, die uns einen tieferen Einblick in diese Ansätze geben könnten. Aus den wenigen Quellen, die die Zerstörung überdauert haben, erscheint Indien im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung als ein Land mit einer sehr reichen philosophisch / spirituellen Landkarte, in der viele Lehrer und Denkschulen in ständiger Debatte und Austausch miteinander standen.

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Traditionelle Art der Lehre in Indien

Rāmānuja, der wichtigste Āchārya unserer Tradition, trat auf dieser Landkarte das erste Mal mit einem Text namens Vedārtha Saṅgrahaḥ in Erscheinung, was „Zusammenfassung der Bedeutung der Veden“ bedeutet. Dieser Text kritisiert die Standpunkte rivalisierender Denkschulen auf sehr umfassende und anspruchsvolle Weise, gleichzeitig gibt er eine genaue Beschreibung der Vishishtadvaita Philosophie.

Der Ausgangspunkt für Rāmānuja und seine Zeitgenossen ist ein sehr interessantes philosophisches Problem: Alle Schriften stimmen darin überein, dass Gott in jeder Hinsicht perfekt und vollkommen ist. Aber die Welt ist weder perfekt noch vollkommen. In welcher Beziehung steht sie dann zu Gott? Vedische Philosophen vor Rāmānuja haben dieses Problem entweder mit der Philosophie des Advaita (Monismus) oder mit frühen Formen der Philosophie des Dvaita (Dualismus) gelöst. Philosophen des Advaita argumentierten, dass nur Gott existiert und er eine homogene Einheit aus Wissen und Perfektion ist. Dieser Zustand wird aber von Unwissen bedeckt und so entsteht die Vielfalt und Nicht-Perfektion der Welt. Das Ziel eines spirituellen Aspiranten muss es folglich sein, diese Unwissenheit zu entfernen und zu erkennen, dass er nicht verschieden von Gott ist. Dvaita Philosophen argumentierten, dass Gott von den Elementen dieser Welt strikt getrennt ist, daher ist ihre fehlende Perfektion nicht überraschend.

Rāmānuja zeigte diverse Ungereimtheiten in Advaita auf – unter anderem das Problem, dass aus dieser Philosophie folgt, dass die stärkste existierende Einheit dann nicht Gott, sondern Unwissenheit ist. Wenn Advaita das wirklich meint, würde es sowohl vielen Aussagen in den Veden widersprechen als auch eine Unzahl von logischen Problemen aufwerfen. Unter anderem, wenn alles, was wir in der Welt wahrnehmen können, letztlich Unwissen ist, ist auch die Advaita Philosophie und ihre Botschaft der Befreiung Unwissen. Wie kann aber Unwissen Unwissen zerstören? Und wenn Unwissenheit so stark ist, dass sie die ganze Realität überformt und missverständlich erscheinen lässt, wie kann ein Mensch überhaupt glauben, dass er sie zerstören kann?

Bezüglich Dvaita weist Ramanuja darauf hin, dass das ganze Konzept strikter Getrenntheit massive logische Probleme mit sich bringt, solange gleichzeitig die Allgegenwart und Allmacht Gottes nicht in Frage gestellt wird. Würde man es tun, würde man damit aber den Aussagen aller vedischen Schriften und auch den Schriften anderer Religionen widersprechen.

Umriss der Philosophie

Vishishtadvaita löst das logische Problem mit dem Argument, dass Gott Modifikationen hat. Diese Modifikationen sind unbelebte Materie und bewusste Einheiten, d.h. die Seelen (Jīvāthmā, wir bevorzugen einen wohldefinierten Begriff aus dem Sanskrit). Modifikation ist im grammatischen Sinne gemeint. Im Sanskrit, für Jahrtausende die Standardsprache für philosophische Forschung und Debatte in Indien, werden Worte konstruiert, in dem eine Wortwurzel modifiziert wird. Mittels solcher Modifikationen kann aus einer Wurzel eine große Anzahl and Wörtern und Bedeutungen erzeugt werden. Analog ist Gott die Wurzel und durch seine Modifikationen entfaltet er die Weite und Vielfalt der Welt, wie wir sie erleben.

Das Problem mit dieser Analogie aus der Grammatik des Sanskrit ist dass, auch wenn sie die vollkommenste ist, sie heute von den meisten nur noch mit Mühe verstanden werden kann. Eine moderne, aber weniger perfekte Analogie ist die eines Computers: Auf einem Computer kann eine nahezu unbegrenzte Vielfalt an Programmen laufen. Obwohl jedes Programm eigenständig ist und bestimmte Bilder und Töne erzeugen kann, haben alle Programme eine gemeinsame Basis, das Betriebssystem plus physischer Maschine. Das Verhältnis von uns (und der physischen Welt) zu Gott ist grob mit dem Verhältnis vergleichbar, das ein Computerprogramm zu Betriebssystem plus physischer Maschine hat. In einem gewissen Sinn sind wir von Gott getrennt, so wie ein Computerprogramm von Betriebssystem und Maschine klar getrennt ist, aber in einem anderen Sinn sind wir nicht getrennt und in vollkommener Abhängigkeit von Gott, so wie ein Computerprogramm nur existieren und funktionieren kann, wenn eine Maschine mit Betriebssystem existiert. Die Computeranalogie hilft uns sogar, die Rolle des Āchāryas (Lehrers) zu verstehen. Das Betriebssystem und einige Komponenten der Maschine stellen diverse Werkzeuge und Schnittstellen zur Verfügung, durch die ein Programm alle Möglichkeiten der Maschine nutzen kann. Analog ist ein Āchārya der beste Zugang zu Gottes Güte und Macht.

Somit ist die Vishishtadvaita auf perfekte Weise in der Lage, den Widerspruch zwischen den beiden anfangs erwähnten Gruppen von Zeugnissen aufzulösen. Rāmānuja erklärt, dass das Verhältnis des Jīvāthmā zu Gott vergleichbar ist dem Verhältnis, das unser Körper zum Jīvāthmā hat. Das bedeutet, dass der innerste Kern unseres Jīvāthmās nichts anderes als Gott ist. Dies ist die Erklärung, warum es mystische Erfahrungen von Einheit mit Gott gibt. Auf der anderen Seite hat ein Jīvāthmā „Schichten“, die im obigen Sinne Modifikationen Gottes und somit unterschieden von ihm sind, was zur mystischen Erfahrung der Getrenntheit führen kann.

Die Gesamtheit alles Existierenden wird in drei ontologischen Kategorien („die drei Existenzen“) aufgeteilt:

  • Chit – bewusste Einheiten, also die Jīvāthmās.
  • Achit – Einheiten ohne Bewusstsein, also die Materialien, aus denen die physischen Welt besteht. Auch unser Geist, unsere Stimmungen und unsere Gedanken gehören zu Achit.
  • Īśvara, Gott – der Besitzer und Lenker von Chit und Achit.

Unsere Āchāryas haben die drei Existenzen und ihre vielfältigen Beziehungen sehr ausführlich und tiefgreifend analysiert, da sie die Grundlage für jede praktische Anwendung unserer Philosophie sind.

Somit ist die Vishishtadvaita Philosophie detailliert durchdacht und vollkommen mit dem Zeugnis der Veden sowie dem der Mystiker innerhalb und außerhalb der vedischen Religion. Wir stehen tief in der Schuld der Āchāryas, die diesen Schatz des Wissens seit mehr als tausend Jahren formuliert, verfeinert und für uns bewahrt haben.

Prapatti

Viele Śrī Vaiṣṇavas beschäftigen sich nur mit Vishishtadvaita, wenn es um grundsätzliche philosophische Fragen geht. Im alltäglichen Leben eines Śrī Vaiṣṇavas spielt Prapatti eine weit größere Rolle. Prapatti bedeutet Kapitulation, Aufgabe.

Für sehr viele Menschen ist die Frage: “Wie entkomme ich Samsāra, dem Kreislauf aus Tod und Wiedergeburt?” die wichtigste aller Fragen. Die Antwort der Śrī Vaiṣṇavas hierauf heißt: Prapatti.

Bekanntlich wurden sehr viele Wege vorgeschlagen, Samsāra zu entkommen – es gibt verschiedene Wege der Buddhisten, verschiedene Yoga Systeme und noch vieles mehr. Alle beinhalten aber das Konzept, dass man selbst tätig wird, dass man durch eigene Anstrengung zur Befreiung kommt. Unsere Āḻvārs und Āchāryas haben aber immer wieder betont, dass dieser Grundansatz im jetzigen Zeitalter des Kali Yuga, dem Zeitalter des Streits und der Verwirrung, nur für eine winzige Minderheit aller Menschen funktionieren wird.

Am Ende seiner Unterweisung in der Bhagavad Gīta erklärt Gott, inkarniert als Kṛṣna, seinem Freund:

sarva-dharmān parityajya mām ekaṁ śaraṇaṁ vraja
ahaṁ tvāṁ sarva-pāpebhyo mokṣayiṣyāmi mā śucaḥ

„Gib alle Systeme auf und komme zu mir als einzige Zuflucht. Ich werde dich von allen Sünden und Vergehen befreien. Gräme dich nicht.“

Dies ist eine sehr zentrale Aussage für uns. So wie eine Katze ihr Junges zu einem sicheren Ort trägt, geben wir Śrī Vaiṣṇavas uns ganz in den Schutz und die Obhut Gottes und vertrauen darauf, dass er uns befreien wird. Dieses Versprechen gab Gott auch noch einmal Rāmānuja – er werde Rāmānuja und all die, die Rāmānuja empfiehlt, befreien. Von Rāmānuja erstreckt sich eine ununterbrochene Kette der gnädigen Empfehlung bis zum heutigen Tag. Ein Āchārya empfiehlt seinen Schüler seinem Āchārya, dieser seinem – die Empfehlung folgt so der Kette der Āchāryas und ihrer Schüler bis hinauf zu Rāmānuja.

Philosophisch lehnen wir Śrī Vaiṣṇavas die Idee des “um zu” ab. Wir haben schon so viele Leben gehandelt um glücklich zu werden, uns zu verbessern und Befreiung zu erlangen. Hat es geklappt? Nein, wir sind immer noch hier und leiden. Alles “um zu” ist sinnlos,  so wie alle Lehren, was man zu tun und was man zu lassen hat für die Befreiung. Das einzige, was wir wirklich tun können, ist unsere Unfähigkeit anzuerkennen und ganz Śrīman Nārāyana, Gott, und der Gnade, die seit Rāmānuja zu uns herabfließt, zu vertrauen. Das ist Prapatti.

Über Rāmānuja

Śrīḥ
Śrīmathē śatakōpāya namaḥ
Śrīmathē rāmānujāya namaḥ
Śrīmath varavaramunayē namaḥ
Śrī vānāchala mahāmunayē namaḥ

Rāmānuja (Rāmānujāchārya) ist ein zentraler Āchārya (Lehrer) in unserer Tradition. Er wurde im Jahr 1017 unserer Zeitrechnung Sriperumbudur, einer Stadt in der Nähe von Chennai (früher Madras) in Südindien geboren. Er war gleichzeitig ein erstklassiger Theologe und Philosoph, der die intellektuelle Landschaft seiner Zeit dominierte, ein bescheidener Diener Gottes und ein hingegebener Diener seiner spirituellen Brüder und Schwestern, letztlich aller Menschen.

Rāmānuja bekämpfte Auswüchse des Kastensystems, in dem er alle Kasten und sozialen Gruppen als Tempelbesucher zuließ und bereit war, jeden als seinen Schüler zu akzeptieren, der ernsthaft danach strebte – wohlgemerkt vor mehr als 950 Jahren. Er begründete einen starken Sinn von gegenseitigem Respekt und Hilfe unter seinen Anhängern, der alle Grenzen der Gesellschaft überschreitet und bis zum heutigen Tage sehr lebendig ist.

Ramanuja

Statue von Rāmānuja im Tempel in Sriperumbudur

Rāmānuja korrigierte Fehlinterpretationen der vedischen Literatur und zeigte, dass jeder Buchstaben der Veden authentisch und maßgeblich ist, so dass es keine Notwendigkeit gibt, zusätzliche Bedeutungen in die Verse hineinzulesen, um scheinbare Widersprüche aufzulösen. Dies war zur Zeit Rāmānujas üblich. Der Philosoph Shankara (Śankarāchārya), der etwa 150 Jahre vor Rāmānuja lebte, hatte die Veden in relevante und weniger relevante Teile unterteilt und dies mit komplexen grammatikalischen Argumenten begründete, die von den Gelehrten vor Rāmānuja aber durchaus akzeptiert wurden.

Die Korrektur wurde durch Rāmānujas Verfeinerung und Systematisierung der Vishishtadvaita Philosophie ermöglicht, die in diesem Artikel erklärt wird. Unsere Tradition und die akademische Forschung stimmen überein, dass Vishishtadvaita schon lange vor Rāmānuja existierte, aber in einer weniger systematischen Form.

Vishishtadvaita bringt auf perfekte Weise die Zeugnisse eines impersonal-monistischen Gottes mit denen eines personal-dualistischen Gottes, beide sind in den Veden zu finden, in Einklang

Trotz seiner großen Verdienste ist Rāmānuja in der westlichen Öffentlichkeit und auch unter spirituellen Menschen im Westen kaum bekannt. Dies steht in krassem Gegensatz zum Interesse der indologischen Forschung. Unter anderem hat die österreichische Akademie der Wissenschaften eine Serie von sieben akademischen Büchern veröffentlicht, die sich mit Rāmānuja und seiner Tradition beschäftigen.

Die akademische Forschung hat klar herausgearbeitet, dass Rāmānujas philosophische / theologische Arbeiten (in Indien kann und darf man beide Bereiche nicht voneinander trennen) von höchster intellektueller Qualität sind und über Jahrhunderte in den Debatten indischer Gelehrter eine wichtige Grundlage bildeten. Rāmānujas Arbeit ist in der indischen Geistesgeschichte ein Wendepunkt, ähnlich wie Kants Arbeit dies in der europäischen Geistesgeschichte ist. Er legte das intellektuelle Fundament für die sogenannten Bhakti Bewegung, die eine sehr persönliche, intime und relativ informelle Beziehung zu Gott propagierte. Allerdings sehen wir Śrī Vaiṣṇavas uns nicht in erster Line als Bhaktas (Menschen die Bhakti praktizieren), obwohl wir direkte Nachfolger von Rāmānuja sind.

Die Bhakti Bewegung ist ein Faktor, der den modernen Hinduismus wesentlich formte und damit letztlich das Gesicht des heutigen Indiens maßgeblich bestimmt. Die Bewegung hat sich über die Jahrhunderte in dutzende Äste und Gruppen verzweigt. Die Hare Krishna Bewegung ist viellicht die bekannteste Bhakti Gruppe außerhalb Indiens.

Im Gegensatz zu europäischen Philosophen war Rāmānuja jedoch ein Āchārya, d.h. ein Lehrer, der das, was er lehrt selbst mit höchstem Anspruch vorlebt. Denn während es in unserem Kulturkreis durchaus denkbar ist, dass jemand Vorlesungen über Ethik hält und gleichzeitig seine Frau betrügt, wäre so etwas für einen Āchārya undenkbar.

Somit ist Rāmānuja eine Verkörperung von Perfektion, jemand der nicht nur in seinem Intellekt, sondern auch in allen Aspekten seines Verhaltens perfektioniert war. In der heutigen Zeit, wo so viele Menschen spirituell auf der Suche sind und leider so oft mit spirituellem Junkfood oder kaum verdaulichen Brocken abgefüttert, vielleicht sogar betrogen, ausgenutzt oder hinters Licht geführt werden, stellt die Tradition Rāmānujas einen Leuchtturm im Nebel von Kommerz und Verwirrung dar. Rāmānuja und seine Nachfolger betreiben Philosophie und Theologie auf dem höchsten Niveau, gleichzeitig lehren sie Praxis, sowohl spirituell als auch im sozialen Miteinander. Sie sind bereit, jedem, der ernsthaft danach strebt, in die Nachfolge von Rāmānuja einzutreten, Schätze des Wissens und der Praxis zu geben.

Unsere Praxis

Śrīḥ
Śrīmathē śatakōpāya namaḥ
Śrīmathē rāmānujāya namaḥ
Śrīmath varavaramunayē namaḥ
Śrī vānāchala mahāmunayē namaḥ

Der Fokus vieler spiritueller Lehrer und Gruppen, die hier im Westen aktiv sind, ist zumeist Meditation. In den buddhistischen Traditionen, die hier vergleichsweise verbreitet sind, liegt Meditationspraxis sogar im Kern. Die Hare Krishna Bewegung verlangt von ihren Mitgliedern als Meditation das Hare Krishna Mantra jeden Tag 16 x 108 Mal zu rezitieren.

Im Gegensatz dazu legt unsere Tradition den Fokus auf die Verehrung der Bildgestalten Gottes, sowohl daheim als auch im Tempel, sowie auf den Dienst im Tempel in Gemeinschaft mit anderen Śrī Vaiṣṇavas.

Verehrung von Bildgestalten

Die Verehrung von Bildgestalten (wir benutzen auch den eleganteren englischen Begriff Deity) ist vermutlich die am häufigsten missverstandene Praxis des Sanātana Dharma (Hinduismus). Menschen aus judäo-christlich-islamischen Religionen lehnen sie als Götzendienst ab. Atheistische Intellektuelle interpretieren unsere Deities als Bilder unterbewusster Prozesses und Strukturen.

Beide Sichtweisen sind gleichermaßen falsch. Die Vorstellung, die hinter dem Begriff Götzendienst steht, ist dass irgend ein materielles Objekt als Gott deklariert und dann verehrt wird. Wenn das der Fall wäre, würden wir es auch ablehnen! Tatsächlich ist die beste Analogie zum Verständnis einer Bildgestalt im Sanātana Dharma die eines Portals oder einer Antenne.

Es ist unmittelbar logisch dass Gott, die letzte Ursache von allem was jemals existiert hat und existieren wird, mindestens so komplex sein muss wie seine Wirkung. Folglich kann nichts, keine Worte, keine Bilder und keine Formen Gott wirklich beschreiben. Aus diesem Grund, so argumentieren unsere Āchāryas, macht Gott sich selbst auf bestimmte Weisen für uns für begreifbar und die Bildgestalt ist eine davon. Jede Weise erscheint beschränkt und lenkt den Blick auf bestimmte Aspekte Gottes. Allerdings wissen wir aus der Mathematik, dass jede Teilmenge einer „echten“ (überabzählbaren) Unendlichkeit wie den Reellen Zahlen selbst unendlich ist. Analog ist Gott in einer ganzen Fülle durch jeden seiner Aspekte zugänglich.

Die Bildgestalten, die wir verehren, sind auch keine willkürliche Kreationen des menschlichen Geistes, die uns nur unser Unterbewusstsein spiegeln. Ihre Geometrie, ihr Schmuck, die Positionen von Armen, Beinen, das Material aus dem sie gefertigt werden und vieles andere ist in den offenbarten Schriften exakt definiert und beziehen sich in komplexer Weise in der Geometrie der Tempels in dem sie installiert sind und Position und Kontext der heiligen Stätte in der Landschaft. Wenn ein Bildgestalt mit den richtigen Mantras und Ritualen installiert wird und auf korrekte Weise verehrt wird, wird sie zu einer Art Portal oder Antenne, in dem sich der allgegenwärtige Gott sich auf besondere Weise für seine Verehrer verfügbar macht.

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Chinna Jeeyar Swami, ein prominenter Āchārya, bei der Verehrung. Quelle: Ashtalakshmi Tempel Houston

Eine einfache Art von Deity (Bildgestalt), die von vielen Śrī Vaiṣṇavas zuhause verehrt wird, sind Saligrams (Salagrams, es gibt viele verschieden Schreibweisen). Oberflächlich betrachtet sind dies Fossilien / Steine mit Fossilien, die in einer spezifischen Gegend von Nepal gefunden werden. Esoterisch sind die selbstmanifestierte, anikonische Repräsentationen Gottes, da sie von Natur aus die Symbole Gottes (Chakra, Muschelhorn etc) besitzen. Aus diesem Grund brauchen Saligrams keine Installation mit Mantras und Ritualen, sie werden direkt verehrt. Gemäß ihrer physischen Merkmale werden sie mit bestimmten Aspekten Gottes verknüpft.

Unsere Tradition betont mit größten Nachdruck, dass der Prozess der Deity Verehrung kein formelles Ritual ist. Vielmehr ist sie eine aktive Meditation, in der man mit absolutem Fokus und Hingabe Verse rezitiert und Handlungen ausführt – in dem Wissen, dass man in direktem Kontakt mit Gott ist.

Transzendentale Literatur

Eine weitere wichtige Praxis ist das Lernen und die Rezitation der transzendentalen Literatur der Āḻvārs und der Hymnen unsere Āchāryas (vgl. unsere Tradition). Solche Literatur sollte in der Sprache rezitiert werden, in der sie komponiert wurde (i.d.R. Sanskrit oder Tamil) aber in genauem Verständnis der tiefen esoterischen Bedeutungen dieser Texte. Dieses Wissen wird in vertraulichen, nur für eingeweihte Śrī Vaiṣṇavas empfohlenen Lektionen durch Āchāryas vermittelt, deren Besuch / Lektüre ein weiter wichtiger Teil unserer Praktiken ist. Eng damit verbunden sind Dienste, die wir für unsere Āchāryas leisten und ihre große Verehrung. Es ist wichtig zu verstehen, dass der Standard, dem sich unsere Āchāryas in jedem Aspekt ihrer Lebensführung unterwerfen, extrem hoch ist. So wie einige selbsternannte „Gurus“ ein Luxusleben zu führen, dass von Schülern finanziert wird, ist für einen Śrī Vaiṣṇava Āchārya absolut undenkbar. Āchāryas werden von uns mehr verehrt als die eigenen Eltern, da die Gnade und das Wissen, dass uns durch unsere Āchāryas erreicht, von unschätzbaren Wert für uns ist.

Geheiligtes Essen

Eine Aktivität, die eng mit der Verehrung von Deities verbunden ist, ist die Zubereitung von reinem, laktovegetarischen Essen, das den Deities bei der Verehrung geopfert wird. Nach der Opferung ist das Essen zu, wie man es im Sanskrit nennt, Prasadam, geworden, was Gnade bedeutet. Śrī Vaiṣṇavas versuchen möglichst nur Prasadam zu essen. Traditionell unterhalten Śrī Vaiṣṇavas auch Blumengärten, in denen Blumen zur Anfertigung von Girlanden und anderen Anwendungen bei der Deity Verehrung gezüchtet werden.

Gemeinschaft mit anderen Śrī Vaiṣṇavas

Wie andere Vaiṣṇava Traditionen legt unsere Tradition großen Wert auf „Sādhu Sanga“, die Gemeinschaft mit losgelösten, heiligen Personen bzw anderen Śrī Vaiṣṇavas. In der Praxis werden zwei Aktivitäten im „Sangam“, also in Gemeinschaft ausgeführt:

  • Das Lernen und die Rezitation der transzendentalen Literatur der Āḻvārs. Solche Rezitationen finden in Śrī Vaiṣṇava Tempeln täglich statt. Auch die Hymnen der Āchāryas werden gemeinschaftlich rezitiert.
  • Die Ausführung physischer Dienste im Tempel, bei Prozessionen usw.

Wir sehen somit, dass der Weg der Śrī Vaiṣṇavas ein sehr aktiver ist. Er umfasst potenziell Aktivitäten vom Züchten von Blumen bis zum Lernen vertraulichen esoterischen Wissen. All diese Aktivitäten sind sich gegenseitig ergänzende Teile in der Praxis eines Śrī Vaiṣṇavas. Somit ist Śrī Vaiṣṇavam ein ganzheitlicher Pfad, der auf eine graduelle Erhebung und Gotteszentrierung aller Aspekte im Leben derer, die diesen Pfad ernsthaft verfolgen, abzielt.