Das wundersame Erscheinen von zwei Bildgestalten

Śrīḥ
Śrīmathē śatakōpāya namaḥ
Śrīmathē rāmānujāya namaḥ
Śrīmath varavaramunayē namaḥ
Śrī vānāchala mahāmunayē namaḥ

Kontext & Vorgeschichte

Wir haben in diesem Einführungsartikel schon beschrieben, dass die Verehrung von Bildgestalten (Deities) für uns Śrī Vaiṣṇavas eine besondere Rolle spielt. Sie sind für uns Portale zu Gott, zu Śrīman Nārāyana. In diesem Artikel möchten wir die Geschichte von zwei Deities erzählen, die bis heute in Alwar Tirunagari verehrt werden. Dies sind Deities von Nammāḻvār von Rāmānuja, die zu Madhurakaviāḻvār kamen.

Wir haben Rāmānuja in diesem Artikel bereits vorgestellt. Nammāḻvār ist einer der Āḻvārs, die wir hier bereits allgemein vorgestellt haben. „Namm“ ist tamilisch und bedeutet „unser“. Nammāḻvār bedeutet also „unser Āḻvār“ – denn Nammāḻvār ist der bedeutendste unter den Āḻvārs. Wir werden sein Leben und sein Werk noch in einem speziellen Artikel behandeln – hier nur ein kurzer Umriss: Nammāḻvār lebte die ersten Jahre seines Lebens in einem Baum, versunken Meditation. Aus dieser wurde er von Madhurakaviāḻvār geweckt und unterrichtete seit diesem Zeitpunkt Madhurakaviāḻvār als seinen Schüler. Madhurakaviāḻvār hörte von Nammāḻvār auch dessen Hauptwerk, die etwa 1000 Verse des Thiruvaimoḻi. Diese enthalten das selbe Wissen wie die Veden, aber in einer einfacheren Form und die einer Sprache, die alle Menschen seiner Region verstehen konnten (tamilisch). Jeder Mensch darf das Thiruvaimoḻi lernen und rezitieren, es unterliegt – im Gegensatz zu den Veden – keinerlei Restriktionen.

Nammāḻvārs Hingabe an Gott war nun aber so groß, dass er – auch wenn er immer wieder außerordendliche göttliche Visionen hatte und seine Hingabe alle Grenzen sprengte – sehr litt, sobald er für einen Augenblick Gott nicht wahrnehmen konnte. Er beschloß daher, diese Welt mit nur 32 Jahren wieder zu verlassen.

Madhurakaviāḻvār war zum Zeitpunkt des ersten Treffens mit Nammāḻvār deutlich älter als Nammāḻvār. Er überlebte Nammāḻvār und seine Nachkommen (manche sagen auch, Madhurakaviāḻvār selbst, da er als fähiger Yogi eine sehr lange Lebensspanne hatte) konnten unseren Āchāryas den Weg zum Thiruvaimoḻi und den Werken der anderen Āḻvārs öffnen.

Die Geschichte der Deities

Als Nammāḻvār nun immer trauriger wurde und sich danach sehnte, diese Erde zu verlassen und in das Reich Śrīman Nārāyanas, das Paramapadam oder Vaikuntha genannt wird, zu gehen, war Madhurakaviāḻvār von großer Sorge erfüllt. Er war Nammāḻvār genau so hingegeben wie Nammāḻvār Śrīman Nārāyana hingegeben war. Wenn Nammāḻvār seinen Körper verließ und nach Paramapadam ging, wie sollte er ihm weiterhin nahe sein? Er bat daher Nammāḻvār, ihm eine Bildgestalt, eine Deity (Sankrit: Vigraham) von sich zu geben, die er und nachfolgende Menschen verehren können. Die folgenden Illustrationen der Geschichte stammen von hier.

Nammāḻvār wies ihn an, Wasser aus dem Fluss Thamirabarani, der in der Nähe des Ortes war, an dem Nammāḻvār lehrte, zu kochen, aus diesem würde ein Deity entstehen. Dies tat Madhurakaviāḻvār.

Doch zu seinem großen Erstauenen tauchte aus dem Wasser nicht ein Deity von Nammāḻvār auf, sondern die Bildgestalt einer Person mit einer Flagge, wie Āchāryas sie tragen.

Allerdings zeigte er keine typische Handhaltung (Mudra) eines Āchāryas – deren Deities haben typischerweise Mudras der Lehre oder des Wissens. Anstatt dessen zeigt die Deity das Anjali Mudra, was Demut symbolisiert. Madhurakaviāḻvār war sehr verwirrt und fragte Nammāḻvār, was es mit diesem Deity auf sich habe. Nammāḻvār erklärte ihm, dass dies der Bhavishya Āchārya sei, ein zukünftiger Āchārya, dessen Bedeutung seine eigene (Nammāḻvārs) noch weit übersteigen werde.

Um einen Deity von Nammāḻvār zu bekommen, solle Madhurakaviāḻvār einfach noch einmal Wasser des Tamrabarani kochen. Und in der Tat, nun tauchte ein Deity von Nammāḻvār auf.

Der Deity des Āchāryas der Zukunft wurde weiter gegeben und verehrt bis – viele Jahrhunderte später – dieser Āchārya identifiziert wurde. Es war der damals noch sehr junge Rāmānuja.

Man kann beide Deities noch heute am Tempel von Alwar Tirunagari, der am Geburtort von Nammāḻvār steht, an großen Festen sehen. Hier sind Fotos:

Deity des zukünftigen Āchāryas
Deity von Nammāḻvār

Quellen & Weiterführendes

Illustrationen: RVS / Lifcobooks via Twitter
Fotos der Deities, Teile der Geschichte: Suparnidevi’s blog
Nammāḻvār & Madhurakaviāḻvār in einfachen (englischen) Worten: koyil.org beginner’s guide
Details zu Madhurakaviāḻvār: koyil.org guruparampari
Details zu Nammāḻvār : koyil.org guruparampari

Adiyēn Mādhava Rāmānuja Dāsan



Unsere Praxis

Śrīḥ
Śrīmathē śatakōpāya namaḥ
Śrīmathē rāmānujāya namaḥ
Śrīmath varavaramunayē namaḥ
Śrī vānāchala mahāmunayē namaḥ

Der Fokus vieler spiritueller Lehrer und Gruppen, die hier im Westen aktiv sind, ist zumeist Meditation. In den buddhistischen Traditionen, die hier vergleichsweise verbreitet sind, liegt Meditationspraxis sogar im Kern. Die Hare Krishna Bewegung verlangt von ihren Mitgliedern als Meditation das Hare Krishna Mantra jeden Tag 16 x 108 Mal zu rezitieren.

Im Gegensatz dazu legt unsere Tradition den Fokus auf die Verehrung der Bildgestalten Gottes, sowohl daheim als auch im Tempel, sowie auf den Dienst im Tempel in Gemeinschaft mit anderen Śrī Vaiṣṇavas.

Verehrung von Bildgestalten

Die Verehrung von Bildgestalten (wir benutzen auch den eleganteren englischen Begriff Deity) ist vermutlich die am häufigsten missverstandene Praxis des Sanātana Dharma (Hinduismus). Menschen aus judäo-christlich-islamischen Religionen lehnen sie als Götzendienst ab. Atheistische Intellektuelle interpretieren unsere Deities als Bilder unterbewusster Prozesses und Strukturen.

Beide Sichtweisen sind gleichermaßen falsch. Die Vorstellung, die hinter dem Begriff Götzendienst steht, ist dass irgend ein materielles Objekt als Gott deklariert und dann verehrt wird. Wenn das der Fall wäre, würden wir es auch ablehnen! Tatsächlich ist die beste Analogie zum Verständnis einer Bildgestalt im Sanātana Dharma die eines Portals oder einer Antenne.

Es ist unmittelbar logisch dass Gott, die letzte Ursache von allem was jemals existiert hat und existieren wird, mindestens so komplex sein muss wie seine Wirkung. Folglich kann nichts, keine Worte, keine Bilder und keine Formen Gott wirklich beschreiben. Aus diesem Grund, so argumentieren unsere Āchāryas, macht Gott sich selbst auf bestimmte Weisen für uns für begreifbar und die Bildgestalt ist eine davon. Jede Weise erscheint beschränkt und lenkt den Blick auf bestimmte Aspekte Gottes. Allerdings wissen wir aus der Mathematik, dass jede Teilmenge einer „echten“ (überabzählbaren) Unendlichkeit wie den Reellen Zahlen selbst unendlich ist. Analog ist Gott in einer ganzen Fülle durch jeden seiner Aspekte zugänglich.

Die Bildgestalten, die wir verehren, sind auch keine willkürliche Kreationen des menschlichen Geistes, die uns nur unser Unterbewusstsein spiegeln. Ihre Geometrie, ihr Schmuck, die Positionen von Armen, Beinen, das Material aus dem sie gefertigt werden und vieles andere ist in den offenbarten Schriften exakt definiert und beziehen sich in komplexer Weise in der Geometrie der Tempels in dem sie installiert sind und Position und Kontext der heiligen Stätte in der Landschaft. Wenn ein Bildgestalt mit den richtigen Mantras und Ritualen installiert wird und auf korrekte Weise verehrt wird, wird sie zu einer Art Portal oder Antenne, in dem sich der allgegenwärtige Gott sich auf besondere Weise für seine Verehrer verfügbar macht.

jeeyar

Chinna Jeeyar Swami, ein prominenter Āchārya, bei der Verehrung. Quelle: Ashtalakshmi Tempel Houston

Eine einfache Art von Deity (Bildgestalt), die von vielen Śrī Vaiṣṇavas zuhause verehrt wird, sind Saligrams (Salagrams, es gibt viele verschieden Schreibweisen). Oberflächlich betrachtet sind dies Fossilien / Steine mit Fossilien, die in einer spezifischen Gegend von Nepal gefunden werden. Esoterisch sind die selbstmanifestierte, anikonische Repräsentationen Gottes, da sie von Natur aus die Symbole Gottes (Chakra, Muschelhorn etc) besitzen. Aus diesem Grund brauchen Saligrams keine Installation mit Mantras und Ritualen, sie werden direkt verehrt. Gemäß ihrer physischen Merkmale werden sie mit bestimmten Aspekten Gottes verknüpft.

Unsere Tradition betont mit größten Nachdruck, dass der Prozess der Deity Verehrung kein formelles Ritual ist. Vielmehr ist sie eine aktive Meditation, in der man mit absolutem Fokus und Hingabe Verse rezitiert und Handlungen ausführt – in dem Wissen, dass man in direktem Kontakt mit Gott ist.

Transzendentale Literatur

Eine weitere wichtige Praxis ist das Lernen und die Rezitation der transzendentalen Literatur der Āḻvārs und der Hymnen unsere Āchāryas (vgl. unsere Tradition). Solche Literatur sollte in der Sprache rezitiert werden, in der sie komponiert wurde (i.d.R. Sanskrit oder Tamil) aber in genauem Verständnis der tiefen esoterischen Bedeutungen dieser Texte. Dieses Wissen wird in vertraulichen, nur für eingeweihte Śrī Vaiṣṇavas empfohlenen Lektionen durch Āchāryas vermittelt, deren Besuch / Lektüre ein weiter wichtiger Teil unserer Praktiken ist. Eng damit verbunden sind Dienste, die wir für unsere Āchāryas leisten und ihre große Verehrung. Es ist wichtig zu verstehen, dass der Standard, dem sich unsere Āchāryas in jedem Aspekt ihrer Lebensführung unterwerfen, extrem hoch ist. So wie einige selbsternannte „Gurus“ ein Luxusleben zu führen, dass von Schülern finanziert wird, ist für einen Śrī Vaiṣṇava Āchārya absolut undenkbar. Āchāryas werden von uns mehr verehrt als die eigenen Eltern, da die Gnade und das Wissen, dass uns durch unsere Āchāryas erreicht, von unschätzbaren Wert für uns ist.

Geheiligtes Essen

Eine Aktivität, die eng mit der Verehrung von Deities verbunden ist, ist die Zubereitung von reinem, laktovegetarischen Essen, das den Deities bei der Verehrung geopfert wird. Nach der Opferung ist das Essen zu, wie man es im Sanskrit nennt, Prasadam, geworden, was Gnade bedeutet. Śrī Vaiṣṇavas versuchen möglichst nur Prasadam zu essen. Traditionell unterhalten Śrī Vaiṣṇavas auch Blumengärten, in denen Blumen zur Anfertigung von Girlanden und anderen Anwendungen bei der Deity Verehrung gezüchtet werden.

Gemeinschaft mit anderen Śrī Vaiṣṇavas

Wie andere Vaiṣṇava Traditionen legt unsere Tradition großen Wert auf „Sādhu Sanga“, die Gemeinschaft mit losgelösten, heiligen Personen bzw anderen Śrī Vaiṣṇavas. In der Praxis werden zwei Aktivitäten im „Sangam“, also in Gemeinschaft ausgeführt:

  • Das Lernen und die Rezitation der transzendentalen Literatur der Āḻvārs. Solche Rezitationen finden in Śrī Vaiṣṇava Tempeln täglich statt. Auch die Hymnen der Āchāryas werden gemeinschaftlich rezitiert.
  • Die Ausführung physischer Dienste im Tempel, bei Prozessionen usw.

Wir sehen somit, dass der Weg der Śrī Vaiṣṇavas ein sehr aktiver ist. Er umfasst potenziell Aktivitäten vom Züchten von Blumen bis zum Lernen vertraulichen esoterischen Wissen. All diese Aktivitäten sind sich gegenseitig ergänzende Teile in der Praxis eines Śrī Vaiṣṇavas. Somit ist Śrī Vaiṣṇavam ein ganzheitlicher Pfad, der auf eine graduelle Erhebung und Gotteszentrierung aller Aspekte im Leben derer, die diesen Pfad ernsthaft verfolgen, abzielt.