Christentum vs Hinduismus

Auf Quora (englisch) wurde folgende Frage gestellt:

Gibt es einen Unterschied zwischen der Bibel und der Bhagavad Gita?

Die Bhagavad Gīta ist einer der wichtigsten Texte im Hinduismus, da er in sich geschlossen und relativ kurz ist, gleichzeitig aber die wichtigsten Themen der Veden behandelt.

Mādhava
Nun, es wäre angemessener zu fragen: Was sind, unter den unzähligen Unterschieden, Gemeinsamkeiten?

Wie in der vorigen Antwort erwähnt, ist die Anerkennung von Sünde eine wichtige Gemeinsamkeit. Sünde ist in der Gita jedoch sehr sekundär, etwas, dass man zugunsten von Karma Yoga hinter sich lasse sollte. In der Bibel ist es ein Herzstück.

Christen sollten zumindest das zweite Kapitel der Gita lesen, um zu erfahren, wie die Gita ist.
Hindus können ein einzelnes Evangelium des Neuen Testaments, vielleicht Lukas, lesen, um einen Geschmack der Bibel zu bekommen.

Beide werden feststellen: Beide Texte sind in Stil, Umfang und Inhalt sehr sehr unterschiedlich.

Kurz danach kam folgender Kommentar zu dieser Antwort:

Ananthara#######
Ich als Hindu fand das Neue Testament nicht besser oder schlechter als die Lehren hinduistischer Heiligen.

Auf Mādhavas Nachfrage nach Beispielen kam folgende Antwort:

Ananthara#######
Thirumandiram by Siddhar Thirumoolar

„Der unwissende Dummkopf denkt, dass Liebe und Shiva zwei sind. Niemand weiß, dass Liebe allein Shiva ist. Wenn Menschen verstehen, dass Liebe und Shiva identisch sind, werden sie in Liebe und Shiva zugleich verweilen.“

Mādhava
Ok, ich verstehe, aus welcher Richtung das Argument kommt. Wenn man bis zum Maximum herauszoomen, können Parallelen zu der Beziehung von Jesus und Gott in der christlichen Theologie gezogen werden.

Als Vaishnava ist meine Kenntnise der Shaiva-Theologie sehr begrenzt. Aber ist es nicht so, dass die Zweiheit sich darauf bezieht, dass das Göttliche  zwei Seiten / Gesichter hat: Auf der einen Seite das statische Prinzip aka Bewusstsein aka Intellekt aka Shiva, auf deren anderen Seite das dynamische Prinzip aka Materie & Energie aka Emotionen aka Shakti?

Wenn das so ist, ist die Ähnlichkeit aber nur auf der Oberflächliche, da Jesus und Shakti ziemlich weit voneinander entfernt scheinen.

Ananthara#######
Nicht nur der Shaivaismus, das Vaishnavatum ist dem Christentum sogar noch ähnlicher. Christentum und Vaishnavatum betonen beide die Liebe zum höchsten Wesen als das ultimative Ziel. Jesus sagte: „Was du den elenden Menschen antust, ist wahrlich, was du mir antust“. Das Vaishnavatum sagt, dass der Dienst an den Dienern Gottes Gott viel mehr freut als der direkte Dienst an ihm. Jesus sagte: „Wenn du Gott im Tempel während eines Konfliktes mit deinem Bruder opfern willst, lass das Opfer am Altar und gehe zum Bruder und versöhne dich mit ihm. Erst dann komm und opfere Gott das Opfer; denn Gott wird das Opfer von jemandem, der Konflikte mit seinen Brüdern hat, nicht annehmen.“ Das Vaishnavatum sagt, Gott wird Vergehen gegen Ihn verzeihen, aber wenn ein Vergehen gegen seine Diener begangen wird, vergibt Er diese niemals.  Der einzige Weg, um Vergebung für solche Vergehen zu erlangen, besteht darin, Vergebung von geschädigten Diener zu erbitten. Jesus sagte noch einmal: „Der Geringste unter euch ist der Größte“. Das Vaishnavatum sagt, dass der größte Gottgeweihte derjenige ist, der sich unter anderen am niedrigsten sieht (besonders offensichtlich im Sri Vaishnavaismus, dem du zu folgen scheinst, wo die Anhänger sich selbst als „dasan“ oder „adiyen“, was „Diener“ bedeutet, ansprechen).

BTW, Shakti im Shaivaismus ist eine liebevolle Mutter und Gemahlin von Shiva. In einem anderen Aspekt ist Shiva selbst alles und jeder. Die Heiligen waren keine Theologen. Sie haben einfach die Liebe Gottes als Shiva genossen.

Mādhava
Das sind sehr schöne Beobachtungen, aber ich kann der Schlussfolgerung nicht zustimmen. Wenn wir uns intensiv bemühen, können wir sicher einige Parallelen finden. Trotzdem sind die Stimmung und die allgemeine Richtung von Vaishnavatum und Christentum sehr unterschiedlich.

Ich stimme aber absolut zu, dass einige Christen (wie meine Oma) erstklassige Bhaktas* und Prapannas** sind. Meine Oma erlebte alle Schrecken des zweiten Weltkriegs, wurde in jungen Jahren Witwe, verlor fünf ihrer sechs Brüder im Krieg, sie hungerte und litt auf so viele Arten, aber ihr Glaube und ihre Hingabe an Gott waren unendlich und unzerstörbar.

Das allgemeine Verständnis von Christen wird jedoch nicht so sehr von Liebe, Zuneigung und Hingabe an Gott bestimmt, sondern vielmehr von extremer Distanz und Respekt, von Ich-möchte-etwas-bitte-gib-es und sogar von blanker Angst. Wir Sri Vaishnavas, die meisten anderen Vaishnavas und, ich nehme an, auch Shaivas, akzeptieren, dass das Göttliche gleichzeitig tranzendent und immanent ist, es ist die Seele meiner Seele und gleichzeitig die letzte Wurzel aller Realität und darüber hinaus. Das Christentum akzeptiert nur Transzendenz, die Seele wird bei der Zeugung geschaffen und aufgrund bestimmter Aussagen Jesu wird sie vergleichsweise eng mit dem Körper verbunden. Daher glaubten mittelalterliche Christen an körperliche Auferstehung!

Im Vaishnavatum kennen wir im Bezug zu Gott die Stimmung des Dieners, des Freundes, des Geliebten, des Elternteils und des Kindes und wahrscheinlich noch einige, die ich gerade vergessen habe. Diese vielfältigen Ausdrücke von Bhakti* sind dem Christentum sehr fremd, die einzigen dort bekannten Stimmungen sind Kind und Diener. Und selbst „Sohn“ ist schon mehr oder weniger für Jesus reserviert, Christen beschreiben sich selbst als nur Kinder im Allgemeinen.

Für uns Vaishnavas sind die Gopis von Vrindavan, die Liebhaber und Geliebten Krishnas, die erhabensten Gottgeweihten. Dies wäre im Christentum völlig undenkbar. Wir haben Statuen Gottes und rezitieren die 1000 Namen von Vishnu. Der christliche Gott verbietet Bilder und wird nur Vater oder JHW genannt (die Vokale müssen ergänzt werden). Wir meditieren und suchen direkten Kontakt mit Gott. Einige Christen tun etwas Ähnliches, aber die Schrift wird immer als der einzig wirklich akzeptable Weg angesehen, Wissen über Gott zu erlangen; christliche Mystiker wurden oft genug herabgewürdigt, zum Schweigen gebracht oder sogar aus der Kirche verbannt.

Fazit: Die allgemeine Richtung beider Religionen ist sehr unterschiedlich, Ähnlichkeiten können gefunden werden, sind aber nur oberflächlich.

 

* Bhakta: Sanskrit Begriff für jemanden, der intensive Gottesliebe spürt und kultiviert.
** Prapanna: Sanskrit Begriff für jemanden, der vor Gott kapituliert. Kapitulation vor Gott ist die ultimative Lehre unserer Tradition.

Autor: koyildeutschland

Sri Vaishnavam in Deutschland

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